Ich bin eine Verbrecherin, eine skrupellose Kriminelle. Gleich zwei Straftaten habe ich binnen 30 Minuten begangen und spüre nicht einmal Reue. Ich habe in der U-Bahn Cola getrunken, weil ich durstig war. Anschließend bin ich quer über eine Straße gelaufen, ohne eine Ampel zu suchen, weil ich faul war. Es fühlte sich beides richtig und gut an. Doch bin ich zu Gast in einem Land, in dem dies nicht richtig und nicht gut ist.
Ich bin in Singapur – einer Stadt der Genüsse und Gesetze.
Auf den ersten Blick wird man berauscht von dieser Millionenstadt. Hoch sind die Häuser, grün die Alleen, vielseitig die Kulturen, vorzüglich das Essensangebot. Die Menschen zeigen sich freundlich, hilfsbereit und weltoffen. Schwüle Hitze und kühler Luxus benebeln den Geist. Ursprünglicher tropischer Regenwald und mit Palmen verzierte Gucci-Kleider sind einen verschwitzen Steinwurf voneinander entfernt. Die nächtlichen Lichter verleiten zum unbekümmerten Träumen.
Alles scheint in Singapur möglich – bis auf eines: Chaos.Sauberkeit und Ordnung sind das S und O in Singapore, dieser isolierten Welt. Herrscht in den zum Greifen nahen Nachbarländern Südostasiens ein sympathisches, allgegenwärtiges Durcheinander aus Straßenlärm, Unordnung und Infektionsgefahr, wirkt Singapur so steril wie das Arztbesteck eines Kieferchirurgen. Alles ist pünktlich, sauber und gesittet. Man stellt sich vor, wie ein Außerirdischer das erste Mal auf der Erde landet und zunächst im possierlichen Singapur auf die wirkliche Menschheit vorbereitet wird. In dieser Quarantänezone für Aliens findet sich schließlich ein Querschnitt so vieler Kulturen – Asien, Indien, Europa – aber in einem überschaubaren und geordneten Rahmen.
Der Grund für diese außerirdisch wirkende Makellosigkeit ist mal offensichtlich, mal verborgen. In jedem Fall trägt er einen faden Beigeschmack: unbeugsame Disziplin. Singapur ist zwar ein Staat, der das Etikett der Demokratie trägt (aber natürlich nirgendwo aufkleben würde). Schaut man jedoch unter die spiegelglatte Fassade, entdeckt man ein Einparteiensystem, das rigorose Gesetze und Strafen androht und verhängt. Würde beispielsweise mein kleinkriminelles, durstiges Verhalten beobachtet, würde mich eine Strafe in Höhe meines Flugticketpreises erwarten. Oder ich dürfte als besonders resilienter Wiederholungstäter gleich für drei Monate ein charmantes Gefängnis besuchen und mir ein gänzlich neues Rückflugticket besorgen. Ein vermutlich außerirdisches Erlebnis.
Doch wo in London, Kapstadt und Los Angeles starke Polizeipräsenz zur Ordnung mahnt und Sicherheit suggeriert, sucht man in Singapur vergeblich nach bewaffneten Ordnungshütern. Stattdessen begleiten einen Videokameras durch den Tag. Wo in anderen Ländern Bettler um eine Spende bitten und vor Taschendieben gewarnt wird, mahnen Hinweisschilder zur Ordnung und bewerben eine WhatsApp-Nummer zur Denunziation. Ich fühle mich beobachtet – wobei dies vermutlich zu gleichen Teilen der Tatsache geschuldet ist, dass ich mir als einziger Passagier in der U-Bahn den Kopf stoße. Ich beginne mich angesichts des Strafmaßes für so banales „Vergehen“ zu fragen, ob der Coffee to Go in der eigenen Hand einem Molotow-Cocktail gleich kommt. Auf welcher Straßenseite muss ich gehen? Wo darf ich meinem nassen Regenschirm ablegen und muss er im rechten Winkel drapiert werden? Fragen, die ich mir bisher im Leben nicht gestellt habe.
Und so beginne ich zu recherchieren und stelle zum Beispiel fest, dass ich mit meinem Bruder niemals zusammen nach Singapur fahren sollte: Streit in der Öffentlichkeit wird mit 5.000 SDR bestraft. Ob sich das Strafmaß reduziert, wenn man erklärt, dass es nur um den Besitzanspruch eines Kekses ging, bleibt offen. Schusseligkeit in Form eines fallengelassenen Bonbonpapiers oder Vergesslichkeit in Form einer nicht gespülten Toiletten wird ebenfalls hochpreisig bestraft. „Verwechselt“ man wiederum einen Aufzug mit einem Pissoir, löst der Urin ein Geruchssensor aus, der die Türen bis zum Eintreffen der Polizei verschließt. So sind hier selbst Verhaftungen effizient gestaltet. Es empfiehlt sich also nur große Geschäfte in Fahrstühlen zu machen. Das Sinnbild für Zügellosigkeit, Chaos und Verwahrlosung ist wiederum nicht ein beschmutzter Fahrstuhl, sondern ein Kaugummi. Selbstverständlich. Genauso wie Cannabis kann man daher in diesem Land, in dem man vom Boden essen könnte, es aber nicht dürfte, keine Kaugummis kaufen. Es sei denn man hat ein ärztliches Attest. Die Strafen hierfür sind im Allgemeinen keine wie die von banalen Ordnungswidrigkeiten, sondern so hoch angesetzt, dass einem das Trinken, Kauen und Zetern schnell vergeht.
Dass einem Gast aus der Ferne dieses Ordnungs- und Regelwerk befremdlich erscheint, ist vermutlich normal. Doch wie empfinden die Singapurer selbst ihr System aus kompromissloser Ordnung? So normal, wie dem Deutschen sein festes Brot erscheint. Der Taxifahrer schwärmt stolz davon, wie sauber und sicher seine Stadt sei und dass man hier nicht einmal Waffen kaufen könne. Ich frage mich, ob Kaugummis auch unter Waffen fallen und er mir beibringen kann, wie man denn mit einem Kaugummi jemand tötet. Jüngeren Generationen werden jedoch ein zunehmend lockerer Umgang mit den Regeln und ein zartes Aufbegehren gegen die subtile Despotie zugesprochen. Ich habe sogar junge Menschen bei Rot über die Straße gehen sehen. Irre.
Läuft man nun ob bei Rot oder Grün durch diese Stadt erfreut man sich beschämt der Vorzüge, die dieser denunziatorische Polizeistaat mit sich bringt.Nirgendwo habe ich mich bisher so sicher – ok und beobachtet – gefühlt. Anstatt mir Gedanken über die Fahrtauglichkeit des Taxifahrers, die Sauberkeit der Toilette oder die Zwielichtigkeit meiner Wohngegend zu machen, kann ich die Eindrücke dieser Stadt sorgenfrei aufnehmen und geniessen. Doch bei all der Schönheit und Pracht, sollte wohl beim Entdecken neuer Welten der kritische Blick hinter die Kulissen nicht fehlen.
Vielleicht ist das der Unterschied zwischen Urlaub und Reisen.
Egal auf welcher Reise, ein bisschen Aufbegehren hat noch nie geschadet: kurz vor der Rückkehr ins geradezu anarchisch wirkende Deutschland, setze ich noch einmal alles auf eine Karte und laufe illegalerweise nackt durch mein eigenes Zimmer. Und frage mich, ob es eigentlich eine Strafe fürs Spannen gibt in diesem Singapur, der Stadt zwischen gepflegter Ironie und ordentlichem Wahnsinn.
Ein Gedanke zu „Singapur – zwischen Genuss und Gesetz“
Ja ,ja ,ja genauso habe ich, bei meinen Besuch, diese wahnsinnig schöne Stadt auch empfunden. Konnte es in meinem Reisebericht nur nicht so eloquent ausdrücken,wie der Schellenaffe!!! Als 4/5 Tages Tourist kommt einem diese kompromisslose Ordnungs-und Gesetzestreue ( mögen uns diese Gesetze auch als drastische Persönlichkeitseinschränkung vorkommen) sehr zu passe!!! Es ist angenehm in so einer Stadt auf Entdeckungsreise zu gehen. Und dabei den Menschen zu begegnen die in dieser reichen ,glitzernden Welt….arbeiten! Hier wird auch geputzt,die Straße gefegt der Müll entsorgt,der Hundekot und verblühte Blumen aus den Grünanlagen entfernt. Aber….alle die,die diese Arbeit erledigen ( und das in einer sauberen schicken Uniform und mit einem freundlichen Lächeln) tun dies mit Stolz und Stil weil sie stolz sind und glücklich hier zu arbeiten und zu leben in ihrem sauberen und glücklichen Singapur, weil doch alle die Touristen und die ausländischen Arbeitnehmer die hier viel Geld verdienen,ihre Stadt doch so schön und „ordentlich “ finden!!!! Absurde Gesetze und drastische Strafen!? Wie empfinden sie das? Normal…..Müssen sein…..Für die Anderen….die Unwissenden….die Touristen….damit die das dann lernen 😉. So gesagt von unserem Taxifahrer….einem jungen sympathischen stolzen Mann! Manchmal, wenn in Deutschland/Europa und der Welt unterwegs bin denke ich:“ Hier würde ein bisschen mehr gepflegte Ironie und ordentlicher Wahnsinn gut tun!!!!😉