Eine Zugfahrt durch die abendliche Dunkelheit. Keine Landschaften, nur diffuse Lichtpunkte rasen vorbei. Der Blick wird klarer für das Innere – das Innere des Geistes. Und des Zuges. Das Gefühl für Zeit, Ziel und Geschwindigkeit schwindet. Mit ihm schwindet die Klarheit der Gedanken. Was bleibt, sind vorbeirasende Gedankenfetzen.
Der Mann neben mir wischt durch eine Dating-App. Dass er Mitte sechzig und äußerst unattraktiv ist, tut seinem Elan keinen Abbruch. Der Klapptisch vor ihm liegt schief auf seinem Bauch auf. Ich befürchte, dass „Beate, 41“ von ihrer wackeligen Unterlage auf meinen Salat rutscht. Rote Beate, 41.
Der Wagen ist so voll, wie die Besucher eines Heavy Metall Konzerts. Bei der nächsten Haltestelle herrscht wilder Trubel. So stelle ich mir Bettenwechsel an der Costa Brava im August vor. Eine freundliche ältere Dame nimmt mir schräg gegenüber Platz. Fällt man in die Kategorie „ältere Dame“, wenn man beginnt bequeme Schuhe aus dem Reformhaus zu tragen? Wenn man „Prosa“ statt „Die Rückkehr der Wanderhure“ liest? Wenn einem dieser eigenartige Geruch aus Rheumasalbe und altem Parfüm, welches geruchlich eher an puren Gin als an Lilien erinnert, anheftet? Die ergraute, rüstige Frau vor mir fällt augenscheinlich in diese Kategorie. Sie nimmt ein geschmiertes Graubrot und ein vergilbtes Taschenbuch aus ihrer quadratischen Handtasche. Umgeben von iPads, Headphones, veganen Wraps und grünen Smoothies scheint sie in einer anderen Zeit zu reisen. Ich schaue sie über den Rand meines Laptops, Handys und Proteinriegels hinweg verstohlen an. Sie blickt mich an, lächelt und fragt: „Kennen Sie vielleicht das W-LAN Passwort?“ Ich schüttele den Kopf. Ertappt. Sie zückt dennoch ihr Smartphone und beginnt eine Whatsapp-Nachricht zu tippen. Ob an ihre Enkel oder ihren Berater für akzessorische Anlagesubstitutionsstragien vermag ich nicht zu erkennen. Ich frage mich, ob sie im nächsten Moment Bluetooth-Kopfhörer aus ihrer Tasche zieht und sich Heavy Metall Musik in die Ohren donnert. Ob sie vielleicht wirklich einen Gin ohne Tonic vor Fahrtantritt getrunken hat?
Jemand nimmt seine Tasche aus der Gepäckablage. Ein Furz fällt dabei in mein Gesicht. Ich brodele wie eine Magmaquelle. In diesem Moment wünsche ich mir, dass durch bunte Seifenblasen sichtbar gemachte Fürze ein evolutionärer Vorteil gewesen wären. So wäre sofort sichtbar, wer für eine dreiste Geruchsbelästigung im öffentlichen Raum bzw. in meinem Gesicht verantwortlich ist. Und so würde mein Kopf nun in einer bunten Wolke aus tanzenden Seifenblasen stecken. So steckt er in einem faulen Ei und ich denke vergeblich an Darwin.
Ich weiß nicht, ob es etwas über meine Evolutionsstufen aussagt, aber ich scheitere am WifionICE. Genauso, wie ich an einer Teilnahme bei Holiday on Ice scheitern würde. Vergeblich frage ich mich, ob mein Zug pünktlich ist. Während der Mann neben mir weiter versucht, reife Damen zu „erwischen“ und ein anderer Passagier videotelefonierenderweise im Gang steht, stelle ich fest, dass der Begriff Funkloch sachlich falsch ist. Korrekt wäre Funkrisse. Ein Geflecht feiner Risse entlang des gesamten Schienenverkehrsnetzes zieht sich durch Deutschland. Und so gleite ich durch eine wohlige Ritze der Unwissenheit, der Unerreichbarkeit. Ich komme eben an, wann ich ankomme. Beim Verlassen des Zuges werde ich feststellen, dass ich die gesamte Fahrzeit über auf dem detaillierten Zeit- und Reiseplan saß. Pfiffig.
Am Vierertisch neben mir unterhalten sich zwei Männer ohne Worte.Ich schaue ihrer Choreographie aus Gesten, Bewegungen und Gesichtsausdrücken zu. Ihre Mimik wirkt so viel klarer, ihre Blicke intensiver, ihre Gesprächshaltung interessierter. Kann man als Gehörloser eigentlich auch jemandem nicht zuhören? Dazu lausche ich der Musik, die über meine Kopfhörer nur für mich spielt. Ich wippe mit dem Fuß. Singe lautlos mit. Zu spät bemerke ich, dass sich meine Lippen bewegen. Als würde ich versuchen, der taubstummen Unterhaltung beizuwohnen. Ich erwarte, dass mich bald jemand entgeistert ansieht und mit einer internationalen Gestik kommentiert: die flache Hand vor der Stirn hin und her wedelnd. Doch meine Umgebung zeigt sich blind und taub.
Das allgemeine Desinteresse wird schließlich durch eine Lautsprecherdurchsage durchbrochen. „Ein Zugbegleiter mit F bitte in Wagen 21“. Vergeblich warte ich auf eine erneute Durchsage: „Ich weiß es. Ich weiß es: Zugbegleiter mit F ist Florian Fischer.“ Ich stelle mir vor, wie ein Schaffner mit Fischbrötchen, Frotteesocken oder Fritteuse durch den Zug eilt. Doch nichts passiert. Die extrudierten Köpfe tauchen wieder tief ein in ihre Smartphones mit WifionICE. Doch wenige Minuten später folgt tatsächlich eine zweite Durchsage „Wir bitten Sie, auf den Toiletten auf das Verwenden von Haarspray oder Deodorants zu verzichten, da diese den Feuermelder auslösen.“ Eine Frau zwei Reihen vor mir bekommt rote Ohren. Sollte sie beginnen zu schwitzen, dürfte sie immerhin über ausreichenden Deo-Schutz verfügen. Sherlock Holmes kombiniert: F steht dann wohl für Feuerlöscher.
Ich beobachte einen Geschäftsmann.Konzentriert starrt er in seinen Laptop. Die Tiefe seiner Denkfalte lässt vermuten, dass es um nichts anderes als die Tilgung der gesamten Staatsverschuldung oder die letzte Ziffer der Zahl Phi gehen muss. Ich male farbenfrohe Geschichten über sein Leben, wie in einem Malbuch aus. Als mein lang gehegter Lebenstraum endlich Wirklichkeit wird – ich steige aus – drehe ich mich um und blicke auf den Bildschirm des Mannes. Er spielt Solitär. Seinen Desktophintergrund ziert dabei ein Bild des drallen, nackten Hinterns seiner Herzdame.
Meine Gedankenfetzen reißen ab.
P.S.: Der Schellenaffe nimmt es nicht nur mit Bahnreisenden, sondern auch mit ihm gestellten Denksportaufgaben auf. Getreu dem Motto „Ein Fuchs (oder Affe) muss tun, was ein Fuchs (oder Affe) tun muss“ hat er seine Prosa wie ein Sherlock Holmes akzessorisch substituiert und stattdessen feurige neue Begriffe, wie aus einer Magmaquelle extrudiert. Pfiffig.
Ein Gedanke zu „Allerlei on ICE – Gedankenfetzen einer Reise.“
Da ich gerade noch eine Bahnfahrt frisch im Kopf bzw. in den Knochen habe,kann ich dem Tatsachenbericht des Schellenaffen noch einiges hinzufügen,dass mich in näherer Zukunft davon abhalten wird Zug zu fahren 😉. Also, es ist absonderlich wenn man 2Stunden einen Cello Kasten sein Gegenüber nennt und dann als Begründung erfährt, so ein Cello braucht auch einen Sitzplatz da es sonst nicht mitreisen kann, da die neuen Züge zu kleine Gepäckräume haben 😶. Oder man wird bei der Erforschung der zu erhoffenden Ankunftszeit von Mitreisenden in eine Diskussion über verschwendete Lebenszeit verwickelt. Obwohl man doch einfach nur schnell und entspannt von A nach B kommen möchte. Apropos Entspannung….Ich habes jetzt herausgefunden was das E bei ICE bedeutet eben Entspannung. Denn wenn man in diesen Zügen noch verhältnismäßig entspannt und pünktlich ans Ziel kommt, hat man in einen Zug ohne E keine Chance darauf, denn die müssen überall halten um selbige durch zulassen und dienen als Auffangbecken (Zug) für gestrandete, minderbemittelte ,irre Fahrgäste 😉. So erlebt an einen frühlingshaften Sonntag auf dem Weg von Leipzig nach Köln. Ende der Durchsage!!!
Und meiner Leidensfähigkeit,die noch durch den komplett Ausfall der 1.Klasse, die ich mir gegönnt hatte um wenigstens ein bisschen „E- Gefühl “ auf der 6 stündigen Fahrt durch deutsche Lande ,zu haben. Nun darf ich mich daheim,so quasi als Verarbeitungs Therapie, mit der Rückerstattung meines zuviel bezahlten Tickets beschäftigten 😑. Also mein Fazit ……DB ade! Schellenaffe…. okay!😉