Ich weine. Ich schreie. Ich tobe. Purer Zorn, rasende Wut erfüllt meinen Kopf. Es rauscht zwischen meinen Ohren. Ich sehe rot vor den Augen. Und das feiste Grinsen meines großen Bruders.
Ich blicke in das Lächeln eines Siegers.
Mein Bruder hat wieder den richtigen Knopf gedrückt, den passenden Hebel bedient. Und so schwinge ich mich empor vom friedlichen kleinen Goldengel auf das Zerstörungs- und Geräuschniveau eines Glasschneiders. Ich weiß, dass er genau das erreichen wollte. Und doch kann ich nicht anders, als meinem Zorn freien Laufen zu lassen. Mein Bruder hat den letzten Doppelkeks, auf den ich numerisch alleinigen Anspruch gehabt hätte, abgeleckt und zurück auf meinen Teller gelegt.
Mein Bruder hat mir beigebracht was Ungerechtigkeit ist.
Dieses je nach Blickwinkel traumatische bis triumphale Erlebnis ereignete sich vor 20 Jahren. Es hätte aber auch ohne Probleme vor 20 Minuten stattfinden können – und in jeder anderen Familie. Welche Mutter kennt nicht das Gefühl einer Innenohrexplosion angesichts der offen ausgetragenen Diskussionskultur ihrer eigenproduzierten Erbengemeinde?
Doch was genau macht diese eigenwillige Beziehung zwischen Geschwistern eigentlich aus? Geschwister bekommt man lebenslänglich. Es sind die Menschen mit denen wir die längste gemeinsame Vergangenheit – und (toi toi toi) Zukunft – teilen. Anders als Freunde oder Goldhamster suchen wir sie uns nicht aus, sondern sie werden in unser Leben geboren. Wir teilen zwar Gene, Nasenform und Erziehung und entwickeln dennoch mitunter komplett konträre Persönlichkeiten. Konfliktpotential lauert überall. Und doch bleiben sie Geschwister, auch wenn man noch so tobt und schreit. Freunde kann man entfrienden, von Partnern kann man sich trennen – zu Geschwistern kann man nicht sagen „ich bin nicht mehr mit dir verwandt.“ Selbst wenn man den Kontakt abbricht, die Verbindung lässt sich niemals ganz kappen. Wie zwei Doppelkekshälften sind Geschwister getrennt und doch miteinander verbunden.
So werden sie zusammen älter und doch niemals gemeinsam erwachsen. Sie verändern sich und bleiben doch immer gleich. Die Rollenmuster sind im Bewusstsein eingeprägt, wie die Erinnerung an den ersten Streit um die Fernbedienung. Besonders wenn die Eltern gegenwärtig sind, pflegt man die alten Umgangsformen und erwischt sich dabei wie man als erwachsene Person seine Eltern anschaut und sagt „Der hat mich geärgert!“
Bei kaum einer Beziehung sind die Muster so deutlich wie bei derjenigen zwischen großem Bruder und kleiner Schwester. Unter Schwestern oder Brüdern an sich herrscht jeweils aufgrund der zwangsläufig ähnlichen geschlechtsbezogenen Erwartungshaltungen mitunter Rivalität. Man möchte mehr Tore schießen als der große Bruder, so beliebt sein wie die kleine Schwester. Das ständige „Warum darf der/die das?“ dürfte bei gleichgeschlechtlichen Geschwistern schneller auf Hand und Zunge liegen. Ältere Schwestern und jüngere Brüder sind wiederum durch ihren Reifegrad oft weit voneinander entfernt. Mädchen werden schneller erwachsen und sind im gefühlten Alter zu weit entfernt von den Lego spielenden kleinen Plagegeistern. Pubertät trifft auf Playmobil.
Großer Bruder und kleine Schwester haben – wenn es gut läuft – eine spezielle Form der Verbundenheit. All den Gender-Debatten zum Trotz üben große Brüder einen ganz eigenen altmodischen Besitzanspruch aus: nur ich darf meine kleine Schwester ärgern. Nur der Bruder darf sie in einem eigenartigen mindestens 18 Jahre währenden Überlebenscamp mit Gemeinheiten, Gegenständen und Nasenauswurf bewerfen. Weint und schreit sie aus einem anderen Grund als wegen eines selbst abgeleckten Gebäckteils, wissen sie oft nicht was sie tun sollen – außer den Verursacher zu „konfrontieren“ bis er selber ein durchweichter Keks ist. Die kleine Schwester ist für andere tabu. Die kleine Schwester selber kennt wiederum kaum Tabus. Sie kämpft sich mit den großen Jungs durchs Dickicht, spielt mit ihnen MarioCart und schaut Fernsehen mit dem nasebohrenden Bruder. Oft ist sie einfach still und leise dabei. Und lernt still und leise fürs Leben – zu streiten, sich durchzusetzen, Tore zu schießen und angeknabberte Doppelkekshälften zu sezieren.
Und so entsteht zwischen Geschwistern, die sich erbittert um Badezimmerzeiten, Fernbedienungen und Kekse gestritten haben, eine feste Bindung. Verstellen ist zwecklos. Gerade in den so prägendsten ersten Lebensjahren hat man zu viel gemeinsame Zeit verbracht. Man hat so viel zusammen erlebt und durchgestanden, dass man seine Geschwister manchmal besser zu kennen scheint als sich selbst. Auch wenn man später keinen gemeinsamen Alltag mehr teilt und sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt, man wird seine Geschwister immer kennen wie kaum jemand anders. Man wird immer die richtigen Hebel finden – um sie auf die Dattelpalme zu bringen. Oder von ihr runter zu holen.
Mein großer Bruder und ich, wir waren nie ein Herz und eine Seele. Und werden es doch immer sein.
Ein Gedanke zu „Geschwisterliebe – vielschichtiger als ein Doppelkeks.“
Als unmittelbar Betroffene in dieser Geschichte von Brüderlein und „Lesterschwein“ stimme ich in vielen Dingen dem Schellenaffe zu. Als Mutter eines Geschwisterpaares und als kleine Schwester, möchte ich aber noch etwas hinzuzufügen!!! Große Brüder ärgern, aber bieten gleichzeitig Schutz vor Anfeindungen von außen!!! Besonders wenn nach der Aussage „Das sag ich meinen großen Bruder “ wirklich ein fast 2m Mensch erscheint 👍😉. Das Band fürs Leben das zwischen einem „Großen Bruder“ und einer „Kleinen Schwester“ geflochten ist, bleibt fest und untrennbar (ob Man(n)/Frau will oder nicht) bis sich einer in die „ewigen Jagdgründe “ verabschiedet! Egal wieviel räumliche oder geistige Trennungen dazwischen liegen.
Egal was der große Bruder anstellt um die nervende kleine Schwester zu ärgern…er wird doch immer der jenige bleiben, der uns geholfen hat , zu lernen, wie wir das Leben meistern.
So sieht es ein „Kleine Schwester “ nach 60 Jahren!
Wieder ein ehrlicher,liebenswerter ,aus dem Leben heraus geschriebener Artikel 👍👌!!