Man entscheidet in einem Alter, in dem man Buffalo-Schuhe oder Lady Gaga noch für eine richtig gute Idee hält über seinen weiteren Lebens- und Werdegang. Darüber in welche ungefähre Himmelsrichtung man den Rest seines Lebens berufspendeln wird. Darüber von wie viel Stress, Geld und Flugmeilen das eigene Dasein geprägt sein wird. Darüber, ob man Menschen dauerhafte Erinnerungen an die eigene ausgeprägte Lese-Rechtschreibschwäche unter die Haut stechen wird.
Ein bisschen wirkt diese zwangläufig in jungen Jahren erforderliche Berufswahl so, als könne man auch gleich dazu übergehen, Kinderehen zu erlauben und Teenie-Schwangerschaften zu fördern. Und so bereitet man die ansonsten für bedingt zurechnungsfähig gehaltene Jugend von langer Hand auf die Frage „Was möchtest du werden?“ vor. Fragt bereits der Opa nach dem Berufswunsch, antwortet der Enkel „Baggerfahrer“. In das Poesiealbum der besten Freundin schreibt man später „Grundschullehrerin“. Man besucht die Berufsberatung des Arbeitsamts – die einem jedoch nahelegt Tankwart zu werden, lediglich weil man gerne mit Menschen zusammenarbeiten möchte und Autos mag. Man schwankt und wandelt, bis die ersten Weichenstellungen tatsächlich anstehen und das Schlingern auf einmal schwieriger wird. Die Entscheidung kündigt sich lange an und ist doch schneller da als eine Wespe im Limonadenglas.
Doch was ist es, was am Ende unsere Berufswahl tatsächlich beeinflusst? Zufälle oder bewusste Entscheidungen? Sind es die Erwartungen der Eltern, das eigene Milieu, die Schulnoten, der pubertäre Hormoncocktail oder echte eigene Interessen? Auf allzu viel Lebenserfahrung als Entscheidungsgrundlage kann man jedenfalls nicht zurückgreifen. Ein Fakt, der vermutlich gesellschaftlich durchaus begrüßenswert ist, denn sonst würde ja niemand freiwillig den Beruf des Urologen oder Grundschullehrers für Musik ergreifen wollen. Wer schließlich einmal „eitrige Hämorrhoideninfektion“ gegoogelt oder einen Raum voller Erstklässler mit „Klang“-Hölzchen und Glockenspielen betreten hat, würde definitiv andere berufliche Entscheidungen treffen.
Man definiert also einen wesentlichen Bereich seines Lebens mehr oder minder mit Verstand und auf erst kürzlich ausgewachsenen, sehr wackligen Beinen stehend. Doch warum halten wir so sehr an dieser wackligen Entscheidung fest – während wir die Buffalo-Schuhe schon lange abgelegt und Lady Gaga abgedreht haben? Warum gibt es, nein, warum ergreifen wir so selten Möglichkeiten im Laufe des Werdeganges, andere Pfade auszuprobieren? Stattdessen fahren wir fünfzig Jahre lang den gleichen Weg entlang. Wir wechseln vielleicht mal auf die Überholspur, aber dennoch fahren wir immer in die gleiche Richtung. Wäre es für uns persönlich und für die Gesellschaft nicht viel interessanter, wenn wir abbiegen und die Richtung wechseln würden?
Bei der Frage geht es nicht um Aussteigerfantasien von ausgebrannten Anzugträgern, die plötzlich Schafzüchter in Neuseeland werden möchten (bis sie feststellen, dass sie Flugangst und eine Ziegenhaarallergie haben). Es geht darum mehr als nur ein Talent, ein Interesse in seinem Leben zu nutzen und zu fördern. Es gibt so viele Berufe, warum sollte man nicht mehr als nur diesen einen ausprobieren und erlernen können. Man könnte vom Gärtner zum IT-Berater umschulen und anstelle von Azaleen Algorithmen bewirtschaften. Anstatt Anlagepapiere könnte man Kinder hüten. Oder zunächst kariöse Löcher flicken und später Golfschülern beim Einlochen anleiten. Wie bunt wäre unsere Welt. Wie vielseitig unsere Tischgespräche. Wie spannend unsere Leben. Und selbst wenn man mal in einen Kreisverkehr gerät und nach einer Yoga-Lehrer-Ausbildung doch wieder „im herabschauendem Angestellten“ vor einem Computer hockt, was haben wir zu verlieren?
Die bisschen verprasste Ausbildungsgelder und Staus auf den Straßen, weil 61-jährige Grundschullehrerinnen eine Fortbildung zur Fernkraftfahrerin machen wollen, verkraften wir doch allemal – wenn man dafür geistig aktive, motivierte und engagierte Mitarbeiter anstatt abgestumpfter, gelangweilter Bioandroiden bekommt. Also: mehr kurvige Karrieren. Mehr schlecht frisierte Lebensläufe. Mehr links abbiegen statt links überholen. Getreu dem Motto: Never give up. Always belive.
2 Gedanken zu „Wenn Legastheniker Tätowierer werden – warum wir werden, was wir sind.“
Auch wenn ich zu denen gehöre die 30 Jahre (eigentlich 40 Jahre, wenn man die eigenen Kinder mit rechnet) Kinder erzogen und auf ihrem Lebensweg begleitet hat, so finde ich die Überlegungen des Schellenaffen im heutigen Kommentar, sehr überlegenswert! Zumal ich oft schon gedacht habe, wenn ich meine berufstätigen Mitmenschen erlebe, warum macht der/die nicht was anderes. 🤔 Zumal die Möglichkeiten einen Beruf zu erlernen und auszuüben so unendlich vielseitig geworden sind.
Ich glaube das liegt am fehlenden Mut! Wagemutig muss man nämlich sein um die eingetreten Pfade zu verlassen und etwas Neues zu wagen!!! Veränderung bedeutet auch Risiko. Aber unsere Jugend möchte die Wohlfühl Zone, die wir Eltern um sie aufgebaut haben, nie mehr verlassen. Alles soll so komfortabel bleiben. Geld ist immer da, der Kühlschrank immer voll, es wird alles geregelte (selbst Wände werden noch vom Papa gestrichen) und das bleibt nur so, wenn man dabei bleibt ,was man einmal begonnen hat . Denn der Komfort ist wichtiger als beglückende Arbeit. Die kann man ja immerhin bei Party und immer absurderen Urlauben einfach vergessen. Und mit 56 arbeitet man dann ja schon auf die Rente hin. Nach dem Motto die paar Jahre überstehe ich auch noch!🙄
Nene, dass werden dann die schlimmsten Jahre, dann doch ruhig mal was Verändern…..am Berufsalltag damit es wieder bunt, spannend und inspirierend wird….nicht nur im Urlaub!😊👍
Die Frage der richtigen Berufswahl hängt auch mit der Einstellung zum Beruf überhaupt zusammen. Der Grundsatz „nicht leben um zu arbeiten, sondern arbeiten um zu leben“ relativiert die Bedeutung des Berufs , dieser sollte allenfalls das halbe Leben sein, sonst macht er krank, und bei Eintritt ins Rentenalter droht das berüchtigte tiefe Loch. Wer in der Berufsphase nur die Arbeit als Maß aller Dinge hatte, hat danach nicht mehr viel … (es sei denn, die Phantasie hat den beruflichen Stress überdauert)