Das Selbstportrait besitzt eine lange Geschichte. Spätestens mit der Renaissance begannen immer mehr selbstbewusste Künstler ihre eigenen Nasen zu tupfen, ihre Augen zu pinseln, sich in akribischer Handarbeit durch ihr eigenes Haar zu streichen. Meist malte oder formte man sich in einsamer, nach Darmproblemen aussehender Denkerpose, starr der Blick, schmal der Mund. Ein Lächeln oder debiles Grinsen suchte man in der Regel vergebens. Van Gogh beispielsweise sieht auf seinem berühmten Selbstbildnis aus, als sei er auf dem Weg zu einer Darmspiegelung. So schlicht wie die Emotionalität, so einfach ist die Kulisse. Keine Sehenswürdigkeiten, keine wilden Tiere, keine Umarmung mit den Sauffreunden aus der Spelunke „Zum goldenen Pony“.
Heute ist aus diesem elitären, edlen Kunsthandwerk der Selbstreflexion etwas anderes geworden. Etwas Animalisches, Weltumspannendes, das ewig bleibt und doch vergänglicher ist als Zahnbelag. Es wurde Teil der allgegenwärtigen Selbstperfektion. Niemand sitzt mehr lange still in einer darmverschnürenden Pose. Nur ein „Tupfer“ und das Werk ist fertig: das Selfie. Egal, ob der Eifelturm oder die Badezimmerfliesen, die Kulisse bleibt Nebensache. Der Begriff „Fototapete“ erhält eine neue Bedeutung. Was ins Gewicht fällt, ist das Gesicht. Das eigene. Die Mimik in diesem sehr intim nahen Gesicht changiert zwischen debiler Euphorie und der altbekannten Denkerpose mit Darmproblemen – jedoch weiterentwickelt um die Hommage an die Gesichtszüge eines Erpels (#duckface). Motto „Ich und meine Fratze“. Hinzukommt ein abgeschnittener Oberschenkel. Zumindest sieht der Arm, der die Kamera hält und aus dem Bild ragt, in der Regel aus, als sei er eigentlich ein stattliches Bein. Um das Bein aus dem Bild zu schneiden, greifen einige Selbstportraitierer auch gerne zur Spiegeltechnik, die jedoch die sehr seltene Fähigkeit zum räumlichen Denken erfordert.
Nicht selten wird hingegen die banale Kulisse angereichert durch andere Menschen. Es entsteht das Gruppenselfie – Motto „viel Mensch“. Man rottet sich unter der Achsel seines Nachbarn zusammen und kommt sich näher. In der Regel ist die Sonne, deren Untergang als Kulisse dienen sollte, längst verschwunden, bis das Gruppenselbstportrait erschaffen ist. Irgendjemand blinzelt, redet („Mist, ich habe, glaub ich, hatte die Augen zu.“) oder selbstseziert sich („Nein, das müssen wir noch mal machen. Ich sehe unmöglich aus.“) immer.
Und so spuckt der Hashtag #selfie über 400 Millionen Ergebnisse aus. Ermöglicht hat diese Fast Food(o) – Welle der technische Fortschritt. Jedes Handy und bald jede elektrische Zahnbürste besitzt eine eigens für Selfies erdachte Kamera. Studierte Menschen haben eine Technik entwickelt nur für Nahaufnahmen der Nasenhaare. Wie erhellend. Eine ganze Industrie formte sich um den Verkauf von teleskopischen Stehhilfen für Selfiebehinderungen (Selfiestick). Als es hingegen noch keine digitale Fotografie gab, sind nur sehr wenige Menschen auf die Idee gekommen, sich ihre behäbige Kamera selbst ins Gesicht zu halten. Der Mut wurde in der Regel mit einer verschwommenen Nahaufnahme der eigenen Stirnfalte belohnt.
Doch woher kommt der moderne Drang, diese technische Weiter- bzw. Näher-dran-Entwicklung auch wirklich zu nutzen? Ständig und überall? Sich in Todesgefahr zu begeben (die Todesursache „Selfie“ hat inzwischen ihren Weg in Statistiken gefunden)? Warum machen sich Menschen zum Hofnarren, indem sie ihr Tablet vor dem Taj Mahal gen Himmel strecken, als sei es eine Bibel, nur um ein Selbstportrait zu machen vor einer Kulisse, die aus Menschen besteht, die Selbstportraits machen? Warum schauen wir uns im Nachhinein einer Reise oder eines Lebens vor allem die Bilder an, auf denen wir selber abgelichtet sind? Sind wir alle so selbstverliebt?
Als bräuchten wir die Bestätigung, dass wir selber in dem Moment anwesend waren, machen wir Erinnerungsfotos von uns selbst in einem Moment. Als würde es die Welt interessieren, teilen wir all diese unzähligen Belegbilder mit der Welt. Bevor ein Moment wirklich geschehen ist, wollen wir uns bereits mitteilen. Doch was wird aus dem Moment, wenn der Moment nur noch darin besteht, ein Foto von dem Moment zu machen? Erinnern wir uns wirklich an die beeindruckende Größe eines historischen Bauwerkes, an die Tiefe einer Klippe und den Lärm der Möwen, die über ihr kreischen, wenn wir damit beschäftigt sind, all die Kolossalität in ein Bild mit uns zu zwängen? Das wirkliche Innehalten, nicht nur für ein Bild, fällt uns schwer. Und so scheint das Selfie Ausdruck einer Welt geworden zu sein, die sich gerne um sich selber kreist und die Aufmerksamkeitsspanne eines Nasenhaares besitzt.
Auf den zweiten Blick beginnt man van Goghs Gesichtsausdruck daher anders zu deuten. Als habe er geahnt, was die Menschheit einmal erschaffen würde, blickt er von seinem Werk, das zur Selfiekulisse degradiert wurde, herab, als möchte er uns sagen „Seid nicht so selfiesh. Ihr habt auch nur Blähungen – vor allem im Kopf.“
Ein Gedanke zu „Doppelkinn und Nasenhaare – das Selfie.“
Ohje, wie recht der Schellenaffe wieder hat. Und jeder der heute den Montag wieder schöner machen will, erkennt sich selbst wieder, auch ohne Selfi!!!🤔 Meine Wenigkeit nicht ausgeschlossen! Obwohl ich die „Selfimanie“ aufgegeben habe! Aber nur weil ich es nicht „schön“ hinbekomme und sie daher eh gelöscht wurden 🤣. Ich fange den Moment mit mir vor, bei,mit ,auf irgendwo, irgendwem aber gerne durch andere Personen (bevorzugt meinem Mann) ein! Schrecklich (schön)? Vielleicht spielen mehrer Gründe dafür eine Rolle. Technische Möglichkeiten, Stolz über das Geleistet ( damit man anderen gleich oder später zeigen kann, wo man was geschafft ,erlebt hat)den Moment für die Ewigkeit festhalten ( meine Ewigkeit),oder auch Freude! 😊 Ich lache mich oft über mich und viele andere schlapp, wenn ich sehe was alles so beim Selfi passiert! Ach, lieber Schellenaffe, es ist schon hart jeden Montag den Spiegel unserer ach so vielen menschlichen Lächerlichkeit,Schwächen, Absurditäten und Fehler vorgehalten zu bekommen! 😉Aber, auch gut, denn du schaffst es auf deine unnachahmliche Weise, den ein oder anderen zum Nachdenken zu bewegen! Mich zum Beispiel!😉Ich werde mich ,bei nächster Gelegenheit ,vor dem Selfi fragen, ist das nötig oder genieße ich den Moment mal ganz in Ruhe und alleine, ohne den Gedanken, wem ich zeigen muss ,dass ich hier stehe!!😉