Karli sitzt mir gegenüber und bohrt in der Nase. Anstatt den erwachsenen Gesprächen am Tisch zu folgen, schaut er den Vögeln im Garten nach. Unruhig scharrt er mit den Füßen und rutscht auf seinem Stuhl hin und her. Vielleicht drückt ihm der Magen. Er hat immerhin drei Stücke Kuchen gegessen. Vom vierten Stück konnte man ihn nur schwerlich abbringen. Und jetzt isst er Nasenauswurf zum Nachtisch.
Plötzlich unterbricht er die dahinplätschernde Unterhaltung über Urlaubsziele und Wetterphänomene. „Ich möchte ein Foto mit meiner Kamera machen.“ Freundlich lächelt die Runde. Gerne. Karli stellt sich hin und fokussiert die Gruppe durch den Sucher. Sehr lange fokussiert er und macht dabei winzige Schritte vor und zurück, als würde er auf einer sehr, sehr kleinen Tanzfläche tanzen. Sein Gesichtsausdruck ist pure Konzentration. Endlich drückt er den Auslöser. Das angestrengte Lächeln fällt der Gesellschaft förmlich aus den Gesichtern.
„Möchtest du mit auf das Bild, Karli?“
„Ja. Karli möchte mit auf das Bild.“
„Karli, lach doch mal.“
Karli macht ein Geräusch, das an einen stotternden Rasenmäher erinnert, der eine bronchial erkrankte Ente verschluckt hat – und verzieht keine Miene. Und so entsteht ein erheiterndes Gruppenfoto, auf dem eine Traube erwachsener Menschen zu sehen ist, die sich fröhlich lachend die Bäuche halten, während in ihrer Mitte ein älterer Mann sitzt, der konzentriert und ernst in die Linse starrt.
Karli ist kein Kind. Karli ist 60 Jahre alt. Und Autist. Ich habe ihn seit vielen Jahren das erste Mal wiedergesehen. Er hat sich nicht verändert – im Gegensatz zu mir und meiner Sicht auf ihn. Früher fand ich Karli unheimlich, wenn er plötzlich ohne jeden Grund grinste und im nächsten Moment wieder mit tiefer Denkerfalte auf der Stirn den Stubenfliegen hinterher zu schauen schien. Oder aufstand und wegging, um in fremden Zimmer fremde Schubladen zu öffnen. Irgendwie tat er mir leid, wie er so in einer anderen Welt zu leben schien, die keinem zugänglich war. Und auch heute ist man verleitet, Karli zu bedauern. Er wird nie alleine verreisen, sich nie verlieben, nie über den Sinn des Lebens streiten, nie nach einer durchzechten Nacht mit dem Fahrrad, den ersten Sonnenstrahlen und Vogelgesängen nach Hause wehen können. Doch welche Erwartungen stellen wir an ein Leben? Welche Maßstäbe setzen wir an das Leben eines anderen Menschen? Weil Karli nie mein Leben führen wird, führt er deswegen ein schlechteres? Ein bedauernswerteres?
Doch je länger man Karli aufmerksam beobachtet, desto mehr beginnt man sich zu fragen, wie bedauernswert und zumindest eigenartig das eigene Leben ist. Man ertappt sich dabei, wie man über Karlis Verhalten lacht – ohne ihn auszulachen. Das Lachen ist warmherzig und mit ihm versucht man das Unsagbare auszudrücken: wer ist hier eigentlich komisch? Karli fotografiert zum Beispiel gerne. Anstatt unkontrolliert ein Handy in Gesichter oder vor berühmte Bauwerke zu halten und wahllos auf den Auslöser zu drücken, als habe man ein Einfingernervenleiden, gibt sich Karli Mühe. Er nimmt sich Zeit für ein Motiv, er druckt die Bilder später alle aus und klebt sie in ein Album. Egal, wie verwackelt oder unvorteilhaft eine Aufnahme auch sein mag. Es war wert, ein Foto davon zu machen, dann muss es auch wert sein, dies einzukleben. Wir löschen fast alle unsere Bilder – in dem wir sie löschen oder vergessen. Warum hält man Momente fest, wenn man sie mit einem Filter in eine andere Form presst oder direkt in den Papierkorb legt?
Mit Karli zu telefonieren, ist ein besonderes, ein besonders kurzes Erlebnis. „Hier ist Karli. Wie hieß Tante Petra Müller mit Mädchennamen?“ Die Antwort wird quittiert mit einem Tuten in der Leitung. Keine Floskeln, keine sich wiederholenden Gespräche über Rückenschmerzen und das deutsche Steuersystem. Und zugleich weiß man, dass Karli eine für ihn wichtige Frage gestellt hat und sich die Antwort merken wird. Er merkt sich alles. „Im August 1992 war ich mit meinen Eltern auf Kreta. Ich habe Fisch gegessen.“ Welche Fragen stellen wir, deren Beantwortung uns wirklich wichtig ist? Was merken wir uns?
Karli lebt ohne Umschweife, ohne gesellschaftliche Riten. Im Gegenteil: Karli spiegelt einem das Phrasenhafte unserer Aussagen und Gebärden wider. Gratuliert man ihm zu Geburtstag, geht er irgendwann dazu über, mit jedem Händeschütteln ebenfalls „Alles Gute und herzlichen Glückwunsch“ zu sagen. Das Gegenüber lacht in der Regel verkrampft und wendet sich schnellstmöglich ab, an jemanden, mit dem es über das Wetter sprechen kann. Karli schaut in Schubladen, weil er wissen möchte, was dort drin ist. Karli trinkt Gläser, egal wie heiß, wie teuer, wie promillehaltig der Inhalt ist, in einem Schluck aus – weil er Durst hat. Bietet man ihm trotz Verneinung ein zweites Mal etwas an, erwidert er „Nein. Ich mag das nicht.“ – in einem frostigen Tonfall, der einem sagt: bist du behindert, ich hab dir doch schon gesagt, dass ich das nicht möchte, warum fragst du noch mal?
Legt man seine eigene Sichtbehinderung ab, merkt man schließlich: Karli tut viele Dinge, die wir eigentlich selber gerne tun würden, aber für die wir zu gesellschaftlich behindert sind, um sie zu tun. Sei es ein bevormundendes „Lach doch mal.“ mit einem Lachgeräusch ohne jede Mundwinkelregung zu quittieren. Man kann Karli sonderbar oder liebenswert finden, man kann mit ihm lachen oder ihn bedauern, man kann versuchen, ihn zu verändern oder akzeptieren, wie er ist – doch eines kann man nicht: darüber urteilen, ob sein Leben lebenswerter ist als das eigene. Das wäre geistig behindert.
4 Gedanken zu „Sichtbehindert.“
Diese Beitrag berührt mich(noch) mehr als viele andere Artikel des Schellenaffen! Weil hier Gedanken aufgeschrieben sind, die auch ich mir schon oft gemacht habe. Ich kenne Karli! Seine Weise mit seinen Mitmenschen umzugehen und sein Leben zu meistern! Aber noch nie ist es mir gelungen, diesen Unterschied, der uns beide ausmacht besser, liebevoller, treffender und ehrlicher zu beschreiben und zu beleuchten!!! Ein wunderbarer Beitrag zur viel diskutierten Gleichstellung von Behinderten in unserer Gesellschaft!
Danke dafür!
Wirklich schön geschrieben, vielen Dank für diesen Artikel!
So treffend und warmherzig! Ich bin begeistert von der Schilderung und den Gedankengängen in diesem Text. Menschen mit Handycap gehören auf jeden Fall zu und in unsere Gesellschaft! DANKE
Karli kenne ich nicht, zum Thema Behinderung kann ich aber sagen, dass ich immer mehr zu der Einschätzung komme, dass die größten Dummheiten auf Erden von „Nichtbehinderten“ gemacht werden, also wären eher diese zu bedauern …